Anlässlich der aktuellen Ausstellung „Image Wars. Macht der Bilder“ hinterfragt Journalist Raimar Stange in seinem Artikel „Bilderflu(ch)t?“ verschiedene visuelle Strategien künstlerischer Werke, die sich mit der „Flüchtlingskriese 2015“ auseinandersetzen. Im Besonderen untersucht er in diesem Zusammenhang den medialen Umgang mit diesen politischen Arbeiten und kommentiert die Dialektik von Bildermacht und Bilderverzicht in der zeitgenössischen Kunst.
Bilderflu(ch)t?
Bilderflu(ch)t?
Drei Fragmente und eine Schlussbemerkung zur Dialektik von Bildermacht und Bilderverzicht
Raimar Stange
I.
Die Video-Installation „Love Story“ (2016) von Candice Breitz stellt eines der dringendsten politischen Probleme der letzten Jahre in ihren Fokus: Flucht und Emigration. In dieser Installation sprechen die beiden Hollywoodstars Julianne Moore und Alec Baldwin ihre Versionen von diversen Interviews, die Breitz zuvor mit Flüchtlingen geführt hatte. Dabei ereignet sich, wie gleich deutlicher werden wird, ein signifikanter Bilderverzicht. Im Vordergrund steht hier nämlich vor allem das gesprochene Wort. Unter den Flüchtlingen ist zum Beispiel Dr. Shabeena Francis Saveri, die aus Indien in die USA geflohen ist, um als Transgender-Frau den Repressalien zu entgehen, denen sie in ihrer „Heimat“ ausgesetzt war. Und da ist die junge Syrerin Sarah Ezzat Mardine, die vor den Kriegsgräueln in Syrien nach Deutschland floh. Deren dramatischen „Schicksale“ werden von Moore und Baldwin, die in jeweils schlichter, schwarzer Alltagskleidung gekleidet und kaum geschminkt sind, gewissermaßen reenactet, und zwar vor grünem Hintergrund, einem sogenannten „Greenscreen“, der im Filmbusiness sonst dazu dient, Schauspieler_innen so vor gleichsam bilderlosen Grund zu filmen, dass sie später problemlos in andere Filmbilder eingefügt werden können. Erst auf dem zweiten Blick sieht der Betrachter, dass sich das Outfit der beiden Schauspieler_innen immer wieder ein wenig ändert, eine Sonnenbrille kommt hinzu, ein Armreifen verschwindet... So erkennt man bei genauerem Hinsehen, dass hier insgesamt sechs verschiedene Charaktere repräsentiert werden. Deren „Love Stories“ werden von Moore und Baldwin also vorgetragen, mehr in perfekter Sprach als in tatsächlicher Schauspielkunst. Der Verzicht auf jedwede wirkliche Kostümierung macht dieses ebenso deutlich wie die stets gleiche Position der beiden Schauspieler, die also kaum „körperlichen Einsatz“ zeigen. So gelingt es dieser „Stimmabgabe“ der beiden Hollywoodstars an die sechs Flüchtlinge, deren Erzählungen mit der medienwirksamen Autorität von Filmstars zu vermitteln, dieses aber vor allem auf Grund deren Popularität, nicht auf Grund ihres schauspielerischen Könnens. In einem zweiten Raum kommen dann die sechs Flüchtlinge selbst auf je einem Bildschirm zu Wort, ungeschminkt und mit fehlerhaftem Englisch tragen sie dort ihre Erfahrungen vor. Zu hören sind diese Berichte nur über Kopfhörer, die Hollywoodstars behalten also die „akustische Hoheit“ in der Installation. Auch dank dieses künstlerischen Verfahrens stellt „Love Story“ nicht zuletzt die Frage, die bekanntlich schon Gayatri C. Spivak 1988 in ihrem gleichnamigen Aufsatz gefragt hat: „Can the subaltern speak?“ – oder bedürfen sie der Repräsentation durch Andere?
Eben diese Frage steht auch in Ai Weiweis 2016 reenacteten Foto eines im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingskindes, das an den Strand des türkischen Insel Badeortes Bodrum gespült wurde, zur Disposition. Bäuchlings liegt der Künstler dort am Strand der griechischen Insel Lesbos, und zwar in derselben Pose wie 2015 das syrische Kind, dem dreijährigen Alan Kurdi. Ai Weiweis Reenactment eines Fotos, das ein Jahre zuvor als journalistisches Bild bereits für Aufsehen sorgte und schnell zu einer Ikone der sogenannten „Flüchtlingskrise“ wurde, unterscheidet sich von „Love Story“ offensichtlich dadurch, dass es statt auf einen „Bilderverzicht“ ganz im Gegenteil auf eine Bildverdoppelung setzt – und dieses von einem medialen Bild, das in der nun einmal schnelllebigen medialen Bilderflut bereits auf- und allzu bald untergetaucht war. Um letzteres tendenziell wieder rückgängig zu machen, hat Ai Weiwei dieses Foto gleichsam neu aufgelegt und dabei mit seiner eigenen Popularität – Ai Weiwei zählte damals zu den absoluten Topstars der internationalen Kunstszene – aufgeladen. So hat der Künstler dem Foto und somit dem ertrunkenen Flüchtlingsjungen quasi repräsentierend seine „Kunststar-Stimme“ verliehen. Veröffentlicht wurde Ai Weiweis Bild damals übrigens in dem Nachrichtenmagazin „India Today“.
Dass Ai Weiweis Arbeit, im Gegensatz zu der von Candice Breitz, in der Kunstwelt übel kritisiert wurde, ist bekannt. Vor allem „Aufmerksamkeitssucht“ (Swantje Karich am 1. Februar 2016 in der WELT) wurde ihm (vor)schnell vorgeworfen. Ob dieses einer der, wie gesagt, absoluten Topstars der Szene überhaupt nötig hat, sei dahingestellt, sicher aber ist, dass Ai Weiweis Strategie aufging: Sein Bild wurde „millionenfach getweetet, gepostet, gemailt“, wie dann auch Karich eingestehen musste. Es führt nicht weiter, hier zu werten und (moralisch) zu urteilen, wichtiger ist festzustellen, dass es offensichtlich beiden künstlerischen Strategien, die des Bilderverzichts und die der Bilderverdoppelung, gelingt, in der Dialektik von Bilderverzicht und Bildermacht erfolgreich eine wichtige Rolle zu spielen.
II.
Ebenfalls 2016 inszenierte das Berliner Zentrum für Politische Schönheit ihre damals überaus umstrittene Aktion „Flüchtlinge fressen – Not und Spiele“ (2016), die sich auch mit der „Flüchtlingskrise“ beschäftigte. Mit ihr forderte das Zentrum die deutsche Bundesregierung auf, die EU-Richtlinie 2001/51/EG außer Kraft zu setzen. Diese Richtlinie verbietet Flüchtlingen mit dem Flugzeug zu fliehen und zwingt sie dadurch, die lebensgefährliche und für viele tödliche Reise über das Mittelmeer anzutreten. Um diese Forderung zu unterstreichen, behauptete das „Zentrum“, sie würden Flüchtlinge vier Tigern in einem speziell dafür errichteten Käfig zum Fraß vorwerfen, würde ihre Forderung nicht in dem von ihnen festgesetzten Zeitrahmen von 11 Tagen erfüllt werden. Die Aktion bestand aus vier Teilen: dem auf dem Platz der Märzrevolution direkt vor dem Berliner Gorki-Theater errichteten Tigerkäfig; einer großen Monitorwand, die gleich neben diesem Käfig installiert war, auf dem Aufklärungsfilme zur Problematik der Flüchtlingskrise liefen; einem Internet-Auftritt, der per Crowdfunding Geld für einen Flug von Izmir nach Berlin beschaffen sollte, mit dem am letzten Tag der Aktion 100 Flüchtlinge in die Spreemetropole gebracht werden sollten. Auch welche Flüchtlinge mitfliegen sollten, konnte auf dieser Webseite bestimmt werden; und zuletzt fanden während der Laufzeit der Aktion an jedem Abend Diskussionen mit „Betroffenen“ sowie namhaften Vertretern aus Politik, Journalismus und Wissenschaft zum Thema „Flüchtlingskrise“ statt.
Auf den ersten Blick kommt der Tigerkäfig als geometrisch strukturierter „Black Cube" daher. An dessen Vorderfront stand eine flächendeckende Glasscheibe, durch die man vier Tiger sehen konnte, die hier auf einer Fläche lebten, die signifikanter Weise so groß war, wie die Fläche, die in dem damaligen Flüchtlingslager auf dem Berliner Tempelhofer Feld achtzig (!) Flüchtlingen zur Verfügung stand. Vor dem Käfig liefen immer wieder Männer auf und ab, die als römische Gladiatoren verkleidet waren, und wiesen das Geschehen unmissverständlich als historisches Zitat – „Brot und Spiele“ – und als theatralische Fiktion aus. Die theatralische Konzeption von „Flüchtlinge fressen“ sah zudem vor, dass eine von den zwölf Flüchtlingen, die sich bereiterklärten, sich fressen zu lassen, die syrische Schauspielerin May Skaf war. Selbstverständlich wurde sie am Ende der Aktion – die Bundesregierung hatte nicht positiv auf die Forderung des „Zentrums“ reagiert – den Tigern nicht zum Fraß angeboten. Stattdessen hielt die Schauspielerin eine Rede, die die Haltung der Regierung und breiter Kreise der deutschen Öffentlichkeit angesichts der „Flüchtlingskrise“ scharf kritisierte.
Klarerweise setzt „Flüchtlinge fressen – Not und Spiele“ in unterschiedlicher Weise auf die emotionale Macht der Bilder: Da sind neben den bewegenden Filmbildern auf der Monitorwand die „realen“ Bilder der vier lebenden Tiger, da ist die theatralische Inszenierung (der Gladiatoren und des angedrohten Fressens) und da sind die eine weltweite Öffentlichkeit ansprechenden Internetbilder. Bewusst speist sich also diese interventionistische Aktion ein in die Bilderflut der Medienindustrie, mit der die „Flüchtlingskrise“ damals „medial“ begleitet wurde. Dabei fährt das „Zentrum“ eine zumindest doppelbödige Strategie: Zum einen wird das sensationslüsterne Gedröhne der Medienberichterstattung durch die Instrumentalisierung der Tiger in einer Form der kritischen Überaffirmation überboten, zum anderen wird dieser Bilderflut auf der Monitorwand fast schon dokumentarisch-aufklärende Bilder entgegengehalten. Und drittens wird die Bilderwelt des Internets genutzt, um gezielt interaktive Momente in die Aktion einzubauen, die dann aus Mediennutzern mehr als nur passive Rezipienten machen.
Ganz anders wiederum ist das Projekt „Die Liste“ von Banu Cennetoglu konzipiert, hier nämlich tritt, noch konsequenter als bei „Love Story“, ein rigoroser Bilderverzicht auf den ästhetischen Masterplan. Eine maschinell geschriebene Liste von registrierten Asylsuchenden, Geflüchteten und Migrant_innen, die aufgrund der restriktiven Politik der Europäischen Union zu Tode kamen, nämlich wird in diesem ongoing-Projekt veröffentlicht, aufgelistet in den Rubriken „Tod aufgefunden Datum“, „Anzahl“, „Name Alter Geschlecht“, „Herkunftsregion“, „Todesursache“ und „Quelle“. An dieser so sachlichen wie beschämenden und erschreckenden Liste, die seit 2006 jährlich aktualisiert wird, arbeitet Banu Cennetoglu gemeinsam mit der pan-europäischen NGO UNITED for Intercultural Action, immer wieder wird sie dann im Rahmen von Ausstellungen im Öffentlichen Raum präsentiert. So etwa 2016 in Zusammenarbeit mit dem Bonner Kunstverein im Bonner Stadtgebiet – damals waren es noch 22.394 Tote – und ein Jahr später anlässlich des „Herbstsalons“ des Berliner Gorki Theater an einigen Litfaßsäulen der deutschen Hauptstadt sowie in der Berliner Tageszeitung „Tagesspiegel“, jetzt mit schon 33.293 aufgelisteten Toten. Im Internet kann „Die Liste“ übrigens kostenfrei unter www.list-e.info jederzeit von jedermann heruntergeladen werden.
Bei On Kawaras „Date Paintings“ (1966 – 2013), um kurz eine auf den ersten Blick ähnlich gelagerte Kunstarbeit zum Vergleich herbeizuziehen, geht es dem Künstler um die individuelle, existentielle Rückversicherung des eigenen Lebens, der „Liste“ um das Gegenteil: Der massenhafte Tod Anderer, der dank der Auflistung wenigstens endlich nicht mehr anonym bleibt, wird hier verhandelt. Diese künstlerische Aufarbeitung der desaströsen Folgen der „Flüchtlingskrise“ gewinnt ihre Kraft dank ihrer, On Kawaras „Date Paintings“ vergleichbar, Objektivität anstrebenden Strenge. Diese unbestechliche Strenge klammert jedwedes Gefühl (erst einmal) aus, um dann gerade durch den beinahe asketisch anmutenden, letztlich aber rücksichtsvollen Verzicht auf Bilder um so eindringlicher anklagend im Raum zu stehen.
Auch die Gegenüberstellung der bildmächtigen Arbeit des Zentrums für politische Schönheit und dem bildverweigernden Projekt von Banu Cennetoglu zeigt: „Mehrere Wege“ – um im Bild von „Flüchtlinge fressen – Not und Spiele“ zu formulieren – „führen nach Rom“.
III.
Auf der 58. Venedig Biennale 2019 stellte Christoph Büchel unter dem Titel „Barca Nostra 2018-2019“ (deutsch: Unser Schiff) ein Flüchtlingsschiff aus, das 2007 vor Lampedusa nach einer Kollision mit einem Frachtschiff kenterte und mindestens 750 Flüchtlinge in den Tod riss. Dieses bildmächtige Readymade hat in Venedig, dort aufgebockt am Rande des Hafenbeckens, überwiegend für negative Schlagzeilen gesorgt, oder positiv formuliert: Das Flüchtlingsschiff berührte die meisten Menschen überaus emotional. Vor allem aus den Reihen des Kunstbetriebes gab es „entsetzte“ Reaktionen, man empfand die Arbeit als plumpe Politik und als zynische Provokation, nicht aber als „ernstzunehmendes“ Kunstwerk. Catrin Lorch forderte am 10. Mai 2019 in der Süddeutschen Zeitung sogar ein „Boykott“ des Wrack-Werkes, denn es sei nichts als eine „reine Vermarktung des Grauens“, die zum „Voyeurismus“ einlade. Christoph Büchel verteidigte sich damals energisch in einer von ihm daraufhin herausgegebenen Presseerklärung: „Das Schiff ist zu einem symbolischen Objekt geworden, das nicht nur den Opfern des tragischen Ereignisses im Jahr 2015 und den Menschen, die an seiner Bergung beteiligt waren, gewidmet ist, sondern auch unser aller Verantwortung als Vertreter einer Politik, die solche Wracks verursacht“. Das Boot, und dieses ist in unserem Kontext entscheidend, wurde von Büchel gleichsam „entkernt“ präsentiert, als leeres Wrack, das keine Spuren mehr von der dort stattgefundenen Katastrophe dem angeblichen Voyeurismus bietet. So gelingt es dem Künstler mit seinem „Barca Nostra 2018-2019“, ganz im (marxistisch-)philosophischen Sinne, die Dialektik von Bildmacht (These) und Bildverzicht (Antithese) in eine wirkungsvolle Synthese, die Bild und dessen Verneinung vereint, münden zu lassen.
Schlussbemerkung
Auffallend ist, dass alle drei von mir vorgestellten „bildmächtigen“ Arbeiten in der Kunstszene für Skandale sorgten, die ihnen gegenüber gestellten Werke, die ihrerseits weniger Bildverweise beinhalteten, jedoch nicht. So unterschiedlich die skandalisierten Arbeiten jeweils agieren, gemeinsam ist ihnen, dass sie aufgrund ihres intensiven Einsatzes von Bildern in den Verdacht kommen, „populistisch“ zu sein, stets wird ihnen vorgeworfen zu emotional und vereinfachend einseitig-parteiisch zu sein. Ihre starken, ja leidenschaftlichen Bilder werden dann fast schon als autoritäre politische Ideologie gelesen, die den Prinzipien einer freien, autonomen Kunst entgegenstehe. Im Zusammenhang mit dem Komplex historischer „religiös motivierter Bilderstürme“, also dem Zerstören wirkungsmächtiger Bilder, hat der Kunsthistoriker Martin Warnke in dem von ihm herausgegeben Buch „Die Zerstörung des Kunstwerks“ (1977) den Prozess hin zur autonomen bürgerlichen Kunst so beschrieben: In der „autonomen Kunst artikuliert das wirtschaftlich potente, aber politisch eher entmündigte Bürgertum seine Utopie von der unbedingten, herrschaftsfreien Kunst. Kunstwerke sind danach primär nicht mehr Träger von Herrschaftssymbolen, sondern sie bringen allgemeinmenschliche, sittliche, nationale Normen sinnlich zur Erscheinung“.[1] Wenn Kunst aber keine autonome, „interesselos wohl gefallene“ Ästhetik (Immanuel Kant) sein möchte, sondern tatsächlich wieder Herrschaft anstrebt in dem Sinne, dass sie (konkreten) politischen Einfluss gewinnen möchte, dann geht offensichtlich auch heute wieder die (bürgerliche) Kunstwelt auf die Barrikaden – statt anzuerkennen, dass Kunst durchaus der fortschreitenden Entmündigung der Bürger in unseren „Postdemokratien“ (Colin Crouch) entgegenwirken könnte und sollte. Dass engagierte Kunst dabei oftmals versucht eine (bildliche) Sprache zu sprechen, die emotional und schnell verständlich ist, kann man durchaus als „populistisch“ bezeichnen, als populistisch aber im Sinne der Soziologin Chantal Mouffe, die bekanntlich, unter anderem als Antwort auf fortschreitende „demokratische Ermüdungssyndrome“ (David van Reybrouk), in ihrer Schrift „Über das Politische“ (2007) einen „linken Populismus“ fordert, den sie zum Beispiel als eine „konfliktvolle Darstellung der Welt mit gegnerischen Lagern, mit denen die Menschen sich identifizieren können […] (und,) die die politische Mobilisierung von Leidenschaften […] zulässt“ beschreibt.[2]
[1] Vgl. hierzu: Martin Warnke „Bildersturm – Die Zerstörung des Kunstwerks“, Hrsg. Martin Warnke, München 1973, S. 12.
[2] Vgl. hierzu: Chantal Mouffe „Über das Politische“, Frankfurt am Main 2007, S. 35.