Ein Jahr nach der letzten trigon-Ausstellung fand 1993 im Rahmen des steirischen herbstes die Ausstellung Europäer des Grazer Kunstvereins statt. Dafür wurden Künstler aus Albanien, Bosnien, Georgien, der Slowakei, Tschechien, Sloweniein und Kroatien eingeladen. Nur wenige Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhang zeichnete die Ausstellung das Bild eines neuen europäischen Raums. Ein Blick zurück – und nach vorne – von Eva Maria Stadler, der damaligen Kuratorin der Ausstellung
Zu Beginn der 1990er-Jahre, in der Zeit nach dem Mauerfall, erfolgte in vielen Ländern Europas eine Neuordnung, die das Konzept einer Ausstellung wie trigon obsolet werden ließ, das seit den 1960er-Jahren auf dem intensiven Austausch der Steiermark mit Italien und dem ehemaligen Yugoslawiens beruhte.
In der Zeit der politischen Umbrüche – Tschechien und die Slowakei wurden zu unabhängigen Staaten, in Albanien wurde 1990 das kommunistische Regime gestürzt und Kroatien, Serbien und Bosnien befanden sich in kriegerischen Auseinandersetzungen – ging es um mehr als um Nachbarschaften. Es ging um Europa.
Vier Jahre nach dem Mauerfall hatte sich die politische Landschaft verändert. Der damalige Vorstand des Grazer Kunstvereins, Peter Pakesch reagierte auf diese Entwicklungen, indem er vorschlug im Rahmen des steirischen herbstes eine Ausstellung mit dem Titel Europäer zu machen. Es sollte eine Ausstellung sein, die Künstlerinnen und Künstler aus jenen Ländern zeigte, die in diese Neuordnungen involviert waren, mehr noch, die sie kulturell mitgestalteten.
Mit wenigen Worten skizzierte Peter Pakesch seine Vorstellungen der Ausstellung und beauftragte mich – damals Assistentin von Elisabeth Printschitz, der Direktorin des Grazer Kunstvereins – die Ausstellung zu realisieren. Ausgestattet mit etwa drei Telefonnummern machte ich mich auf den Weg nach Kroatien, Tschechien und Albanien und besuchte Künstler_innen in ihren Ateliers. Ich versuchte mir ein Bild von der jeweiligen politischen und kulturellen Situation in den Ländern zu machen, und war von Anfang an mit der Frage beschäftigt, wie die Erzählungen, die die Künstler_innen in ihren Ländern entwickelten, in der geplanten Ausstellung in Graz umgesetzt werden sollten. Ich war mit der Problematik des eigenen, westlich geprägten Kunst- und Kulturverständnisses konfrontiert. Wie sehr mein Blick mit einer ästhetischen Erwartungshaltung verknüpft ist, wurde mir auf meiner Reise nach Albanien in besonderer Weise bewusst.
Als ich im Frühling 1993 in Tirana ankam, war der Umbruch in dem sich das Land befand, überall zu spüren. Auf den weiten Straßen fuhren, ohne nennenswerte Verkehrsregelungen, wenige Autos, meist Gebrauchtwägen, die aus Ländern wie Italien oder Österreich importiert wurden. Man konnte sie an den jeweiligen Mautaufklebern erkennen. An allen Ecken und Enden begannen die Menschen damit, kleine, oft sehr kleine Geschäfte zu eröffnen. Oft hatten sie nicht viel mehr anzubieten als zwei Schokoriegel und einen Satz Autoreifen. Besonders beliebt waren Kioske, bei denen Getränkedosen und kleine Snacks gekauft werden konnten. Die aus Holz gezimmerten Buden schossen über Nacht aus dem Boden, genauso wie Straßencafés, die oft nur für einige Stunden auf einem der großen, von italienisch-faschistischer Architektur geprägten Plätze aufpoppten. Es reichten dafür hunderte Plastikstühle, die allseits beliebten Monoblocs, und ein Getränkewagen. Müll wurde sorglos weggeworfen und blieb auf der Straße liegen. Auf die Frage, warum dies so sei, erhielt ich die Antwort, die Menschen wären froh überhaupt Müll westlicher Prägung, bestehend aus Plastik und Blechdosen, zu haben.
Die Telefonnummer, die ich für meine Reise nach Albanien zu wählen hatte, führte mich zu Fron Nazi, der damals die Soros Foundation in Tirana leitete. Die von George Soros in zahlreichen Ländern Osteuropas gegründeten Stiftungen hatten die Aufgabe, in erster Linie Strukturen für Information und Pressearbeit aufzubauen, sowie Schulen und Kindergärten einzurichten. Das Vermögen, aus dem das Stiftungskapital stammte, verdiente und verdient Soros immer noch in erster Linie mit Finanzspekulationen, wie mit jenem spektakulären Handel im Herbst 1992, als Soros gegen das seiner Meinung nach überbewertete britische Pfund spekulierte und damit über eine Milliarde Dollar verdiente – nicht ohne bereits damals die fehlenden Regulationen auf dem Finanzmarkt zu kritisieren.
Fron Nazi war 1993 in Tirana damit beschäftigt, ein Pressebüro mit gerade mal einem Computer einzurichten und Journalisten auszubilden. Mein Anliegen, die albanische Kunstszene kennenzulernen, unterstützte er, indem er mich mit verschiedenen Künstlern und Kulturschaffenden zusammenbrachte. Einer von ihnen war Edi Rama, der heute Albaniens Ministerpräsident ist. Rama begleitete mich bei verschiedenen Atelierbesuchen und führte mich zur Kunstakademie, wo wir Edi Hila trafen, einen der an der Akademie lehrenden Professoren. An der Akademie sah ich in der Bildhauerklasse, aufgestellt in einem Kreis, fünfzehn mehr oder weniger identische Büsten, an denen die Studierenden zeitgleich arbeiteten.
Im Haus eines namhaften albanischen Künstlers fand ich dutzende Kopien französischer Impressionisten, die in erster Linie deshalb so berührend wirkten, weil dieser Künstler im kommunistischen Regime auf Grund des Besitzes von Katalogen französischer Künstler der Jahrhundertwende zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden war. Rama zeigte mir Gemälde von sich, darunter ein im Stil des magischen Realismus meisterlich gemaltes Bild eines Einhorns. Ich war einigermaßen verdutzt, und überlegte natürlich, welche Arbeiten ich in der Grazer Ausstellung zeigen könnte. Einhörner und impressionistische Landschaften schienen mir nicht geeignet, die albanische Kunst zu repräsentieren. Ich löcherte Rama mit Fragen, ob es nicht vielleicht doch Künstlerinnen oder Künstler gäbe, die sich mit der aktuellen politischen Situation beschäftigen, die in einem Bezug zu Europa stünden, mit anderen Medien – vielleicht Video oder Rauminstallation – arbeiteten und so fort. Ich verstrickte mich in ein Dilemma: Auf der einen Seite war da der Wunsch mit Künstler_innen zusammenzuarbeiten und jenen, die jahrzehntelang isoliert waren, eine Stimme zu geben; auf der anderen Seite war es aus meiner Sicht schlecht auszuhalten, Arbeiten zu zeigen, die im aktuellen künstlerischen Diskurs als rückständig gelten würden. Auch wenn ich kurz daran dachte, die impressionistischen Landschaften in ihrer Gesamtheit zu zeigen und damit die Repressivität des kommunistischen albanischen Regimes zu vermitteln, habe ich von solchen Ideen letztlich Abstand genommen. Es war einfach nicht richtig, aus einer authentischen künstlerischen Setzung eine konzeptuelle Installation zu basteln, die im westlichen Diskurs unter Umständen bestanden hätte. Nach langen Diskussionen über Erwartungen an die Kunst, über kulturelle Traditionen und Unterschiede führte mich Rama in seine eigene Wohnung. Mein Erstaunen war groß: Die Zweiraumwohnung in einem mehrgeschossigen modernistischen Wohnbau aus Beton war über und über bunt ausgemalt. An den farbigen Wänden klebten verschiedene Objekte, Schallplatten beispielsweise oder Plastikpferdchen, dazwischen fanden sich handgeschriebene Gedichte und Liedtexte westlicher Popsongs. Für Rama war das der Raum, in dem er all das sagen konnte, was in der Öffentlichkeit verboten war – sein Freiraum. Bis 1991, als das Ende des kommunistischen Einparteiensystems am 20. Februar im Sturz der Statue Enver Hoxhas durch Demonstranten kulminierte, durfte niemand wissen, welche Platten der Künstler hörte, geschweige denn, wie er an die Musik kam. Denn die oftmals widerständigen Liedtexte bargen revolutionäres Potenzial, das es von Seiten des Regimes zu unterdrücken galt. Da war sie also die Rauminstallation nach westlichem Verständnis. Es kam, wie es kommen musste: Ich fragte Rama, ob er sich vorstellen könne, eine solche Arbeit für einen der Räume im Grazer Stadtmuseum zu entwickeln, in dem die Ausstellung Europäer stattfand. Nach einigem Zaudern stimmte er zu. In einer buchstäblich raumgreifenden Wandmalerei verknüpfte Rama politische Parolen mit Texten der Popkultur. Mit durchgestrichenen Liedzeilen verwies er auf die Erfahrung der Zensur – darauf, Dinge nicht aussprechen, oder sie mitunter gar denken zu dürfen.
In seiner Zeit als Bürgermeister von Tirana (2000–2011) wandte Rama das Prinzip der bemalten Wand in ganz anderen Dimensionen an. Die grauen Fassaden der dynamisch wachsenden Stadt ließ er in allen Farben erstrahlen. Die illegalen Kioske und Holzbuden, die Anfang der 1990er Jahre zusammengezimmert wurden, ließ er abreißen und den Müll entsorgen.
Edi Hila, der an der Kunstakademie von Tirana unterrichtete, war der zweite albanische Künstler, den ich nach Graz einlud. Hila, der derzeit international große Erfolge feiert – unter anderem mit seiner Teilnahme an der documenta 14 – steht für eine Malerei, in der sich ein lyrischer Realismus mit Momenten der Abstraktion verschränkt. Der Bruch, der Albaniens Gesellschaft erfasste und immer noch prägt, lässt sich in seinen Bildern an ebendieser Grenze zwischen Realismus und Abstraktion spüren.
Eine zweite Reise führte mich nach Kroatien und Slowenien. Österreichische Institutionen pflegten – nicht zuletzt dank solcher Projekte wie trigon – langjährige Beziehungen mit Künstler_innen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Dank der politischen Autonomie Jugoslawiens und Josip Broz Tito liberalem Kommunismus, war es möglich, derartige kulturelle Verbindungen mit Ländern wie Italien und Österreich zu etablieren, die eine neo-avantgardistische Kunstproduktion nach sich zog.1 Künstler der jüngeren Generation, wie Marko Lulić und David Maljkovic setzen sich mit dem kulturellen Erbe dieser Zeit unter sich verändernden politischen Vorzeichen auseinander.
In Zagreb besuchte ich 1993 Sanja Iveković. Die kroatische Künstlerin war bereits damals bekannt für ihre prononciert politische und feministische Arbeit.
In ihrer Wohnung zeigte mir Iveković den Balkon, auf dem sie 1979 die Performance Trokut (Triangle) realisiert hatte. Während auf der Straße vor ihrem Haus Josip Broz Tito mit seinen Truppen vorbeimarschierte, saß die Künstlerin auf diesem Balkon und gab mit einem Buch in der Hand vor, zu masturbieren – wohl wissend, dass sie dabei beobachtet werden würde. Mit solchen Arbeiten die Bereiche des Privaten und des Öffentlichen zu überblenden, war ihr seit den 1970er Jahren ein Anliegen.
Für die Ausstellung in Graz entwickelte Iveković eine neue Arbeit mit dem Titel Mind over Matter. Einem mannshohen Haufen alter Kleider der Grazer Caritas stellte sie eine Videoprojektion gegenüber, die stark verlangsamt Dokumentarmaterial aus den 1950er-Jahren zeigte. Darauf war zu sehen, wie ehemalige amerikanische Soldaten mit Elektroschocks therapiert wurden. Iveković thematisierte mit dieser Installation nicht nur die Frage humanitärer Hilfe, sondern hinterfragte sie darüber hinaus in ihrer Ambivalenz – Stichwort: Abbild politischer Machtverhältnisse – kritisch.
Die Narrationen künstlerischer Erzählungen waren damals brüchig geworden. Es fehlte ihnen der utopische Ansatz der Kunst der 1960er-Jahre, die vom Aufbruch in die Moderne und von einer schillernden Popkultur geprägt waren. Sieht man sich heute die futuristischen Installationen von Eilfried Huth und Günther Domenig an, die diese 1967 für trigon realisiert hatten, wird umso deutlicher, welche Chance Ende der 1980er-Jahre verpasst wurde. Anstatt sich nach dem Ende des Kalten Krieges für Friede und Demokratie stark zu machen, führte eine Art „post-Cold War fever“, wie es die amerikanische Kuratorin Roxana Marcoci ausdrückt, in irrationale Gewalt.
Die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Serbien, Kroatien und Slowenien fanden ihren Niederschlag in den Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern wie Sanja Iveković, Jadran Adamovic, Jusuf Hadžifejzović und dem serbischen Künstler Raša Todosijević.
Todosijević begann 1989 an einer Serie von Installationen mit dem Titel Gott liebt die Serben zu arbeiten. Er verkehrte dafür Zeichen totalitärer Regime, indem er eine verzerrte Darstellung des Hakenkreuzes mit Alltagsgegenständen, beispielsweise Stühle und Blecheimer, und einem Text seiner Mutter verknüpfte, indem sie auf Gott und den Kommunismus gleichermaßen flucht. Er kritisierte damit den radikalen Nationalismus, der sich in den 1990er-Jahren ausbreitete.
Auf die ökonomische Ungleichheit zwischen den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens und den Ländern des Westens wie etwa Österreich reagierte Jusuf Hadžifejzović indem er alltägliche Massenware auf rosa gestrichenen Holzpodesten in Szene setzte, in die er Goldnuggets eingelassen hatte. Ganz im Sinne der Theorie von Pierre Bourdieu hielt er materiellen, ökonomischen und symbolischen Wert gegeneinander. Das kulturelle Kapital, das er aus der künstlerischen Arbeit schlug, war ihm zu diesem Zeitpunkt weniger wichtig als die unmittelbare Wertschöpfung des Goldes.
Der Nationalstaat der Slowakei existierte erst zehn Monate, als die Ausstellung Europäer im Herbst 1993 eröffnet wurde. Spielregeln der Aufteilung, der Kommunikation und Kooperation setzte der slowakische Künstler Július Koller in einer seiner sogenannten „Kulturellen Situationen“ in Szene. Ausgehend von den Theorien gesellschaftlicher und sportlicher Spiele von Johan Huizinga schuf Koller ein Spielfeld aus schwarzer Plastikfolie, die – gehoben von einem Luftstrom und an den Rändern beschwert mit Zitronen – beinahe den ganzen Raum einnahm. Eine Reihe von Fragezeichen, jenes symbolträchtige und subversive Zeichen das in Kollers Werk immer wieder auftaucht, sprühte der Künstler über den Spielfeldrand. Über einem Ballnetz am Ende des Raumes waren Fotografien von Spielsituationen angebracht, am Boden säumten Grabkerzen das Netz. Bereits seit den 1960er-Jahren spielte das Netz in Kollers Arbeiten eine wichtige Rolle. In der Zeit des politischen Umbruchs kam ihm nun eine besondere Bedeutung zu – als Begrenzung und zum Zweck von Einschluss und Ausschluss. In der Grazer Installation wurde das Netz eben gerade nicht in der Mitte des Spielfeldes angebracht. Der Spielpartner – Tschechien? – war verabschiedet worden.
V.S.S.D. ist die slowenische Abkürzung für „Painter, Do You Know Your Duty?“. Unter diesem Namen hatten Alen Ozbolt und Janez Jordan von 1984 bis 1995 als Künstlerduo zusammengearbeitet. In den malerischen Installationen von V.S.S.D. wird die Idee des Raumes abstrakter formuliert als in den politisch konkreteren Installationen von Edi Rama, Július Koller oder Sanja Iveković. Die slowenischen Künstler ließen die Grenzen von Boden und Wänden verschwimmen. Mittels farbigen Betonobjekten und Sandzeichnungen entwickelten sie einen sphärischen Raum – man könnte sagen: ein Cyberspace – in dem die Beziehungen zwischen den Elementen den Raum hervorbringen. Seit 1991 war das World Wide Web öffentlich und weltweit verfügbar. Zwei Jahre später sollten V.S.S.D. ihren relationalen Raum formulieren. Das Prinzip der Ausdehnung, wie es den utopischen Entwürfen der 1960er Jahre zu Grunde lag, verschiebt sich hier hin zu einer dynamisch prozesshaften Vorstellung des Raumes.
In seinem Aufsatz „Medienrevolutionen/Raumrevolutionen“ verweist der Medientheoretiker Stephan Günzel auf zwei Achsen, entlang derer sich die Auseinandersetzung mit Medien über den Raum hinaus aufspannen lassen: eine historische Achse, auf der auch die beiden großen Medienrevolutionen im Kontext ihrer politischen Entwicklungen, der Buchdruck und die digitale Revolution zu finden sind; und eine systematische Achse der Übertragung und Vermittlung.3 In ihrer Wechselwirkung gilt es, Raum ebenso als Medium der Körper zu denken wie als Medium der Bewegung.
Europäer war eine Ausstellung, die den Gedanken von trigon in veränderter Form aufgenommen hat. Mehr als um eine Befragung der politischen Verhältnisse ging es darum, Beziehungen zu stiften, die für eine dynamische Demokratie in einer globalisierten Welt unerlässlich sind. Europäer war eine Ausstellung, die nicht in einem abgeschlossenen, sondern einem offenen, in einem transitorischen System operierte. Und dieses Anliegen erscheint heute aktueller denn je.
[1] Vgl. Roxana Marcoci, „Art in Transitional Times, Post-1945, 1968, 1989 and 2000 in The Former Yugoslavia“, in: Sanja Iveković: Sweet Violence, Ausst.-Kat., MoMA, New York, 2012.
[2] Vgl. ebd..
[3] Vgl. Stephan Günzel, „Medienrevolutionen/Raumrevolutionen“, in:
30 Künstler/30 Räume
, Ausst.-Kat., Neues Museum, Nürnberg, 2012.