Down the Rabbit Hole: Immersion in analogen und digitalen Kulturen

Markus Krottendorfer

Unfortunately, this article is only available in German.

Was passiert, wenn die physische Realität langweiliger ist als die virtuelle? Der Medienwissenschaftler Christian Stiegler über unsere Faszination mit immersiven Technologien und deren gegenwärtigen Aufstieg zum Massenmedium.

Revolutionen beginnen häufig mit einer Utopie.

In Ernest Clines Popkultur-Manifest Ready Player One (2010), massentauglich verfilmt 2018 von Steven Spielberg, wird das Bild einer Gesellschaft im Jahr 2045 gezeichnet, die sich fast vollständig von der physischen Welt abgewendet hat. Zu viele Kriege, Naturkatastrophen und politische Umbrüche. Städte sind zu Ghettos verkommen, physische Kontaktaufnahmen zwischen Menschen gibt es nicht mehr. Die Rettung einer solchen Welt am Abgrund scheint sinnlos.

Stattdessen beginnt die Menschheit ihre Energie in eine digitale Parallelwelt in Virtual Reality (VR) zu stecken: OASIS (Ontologically Anthropocentric Sensory Immersive Simulation) ist ein VR-Spielfeld aus Versatzstücken der Popkultur, ein virtueller Ort, an dem alles viel einfacher scheint als in der physischen Realität. In der virtuellen Welt ist man umringt von den kulturellen Artefakten einer nostalgisch aufgeladenen Vergangenheit: dem Delorean aus Back to the Future, dem Millennium Falcon aus Star Wars und der Musik aus Saturday Night Fever. Die ganze Welt in einem Headset: Freunde, Familie, Shopping, Nachrichten, Bildung, Entertainment, Liebe und Sex. Die artifizielle Welt ist dermaßen immersiv und einnehmend, dass die Maßstäbe der Vorstellung von Realität ausschließlich an ihr gemessen werden.

Immersion ist ein Schlüsselbegriff der Medienrezeption des 21. Jahrhunderts. Der Begriff meint das Ein- bzw. Untertauchen in eine andere (Um-)Welt, die einen sowohl physisch als auch psychisch völlig einnimmt. Diese verlockende und auch unübliche Erfahrung wird häufig mit jener aus Alice’s Adventures in Wonderland (1865) verglichen. Alice, das fantasievolle Mädchen im strengen und von Vorschriften geprägten viktorianischen Zeitalter, fällt in ein Hasenloch, nur um sich in einer Welt wiederzufinden, in der physische Regeln außer Kraft gesetzt werden (Tiere können sprechen, Katzen werden unsichtbar, Körper verändern sich ständig, etc.). Zur Erinnerung: Das Wunderland ist ein Vorläufer der OASIS, nur auf den ersten Blick weitaus weniger angenehm, regiert von der erbarmungslosen Herzkönigin, die ihre Untertanen bei der geringsten Widersprache köpfen lässt. In der Illusion des Wunderlands findet Alice jedoch etwas, das ihr in ihrer physischen Wirklichkeit fehlt: Freunde, Anerkennung, Zugehörigkeit. Das Wunderland ist ihre bevorzugte Realität, in die sie vollständig ein- und untertauchen möchte.

Die Menschheit war schon immer von immersiven Erlebnissen fasziniert. Angefangen mit visuellen Eindrücken von allumfassenden Bildern, Fresken und der Rundperspektive des Panoramas wurde rasch ein Spannungsfeld von Illusion, Spektakel und Kunst eröffnet, das sich breiter Beliebtheit bei einem Massenpublikum erfreute. Bilder, die aus ihrem Rahmen „heraustreten“, das Sichtfeld des Publikums vollends einnehmen, und in die physische Welt „eindringen“ sind die Vorboten für ein Zeitalter immersiver Medien, die sowohl physisches als auch mentales Eintauchen voraussetzen. In Folge entwickelt sich eine Vielzahl narrativer, visueller, sensueller und perzeptueller Strategien der Immersion, die wir in vielen medialen und künstlerischen Ausformungen finden. „Sich in einem Buch verlieren“ verweist auf das Eintauchen in eine narrative, fiktionale Welt, und die gleichzeitige Negierung der physischen Umwelt des gedruckten Papieres. Immersives Theater löst die Grenzen zwischen performativer Darstellung und Publikum auf und dekonstruiert den physischen Theaterraum. Bildsphären im Kino und Fernsehen nehmen nicht nur das Blickfeld des Publikums ein, sie verweisen auch auf die Dominanz der Bildschirme – auch maßgeblich verkörpert durch Computer, Laptops, Mobiltelefone und die digitalen Erfahrungen, die sich darin eröffnen: Rollenspiele wie The Sims und World of Warcraft, die ihre Spieler_innen für mehrere Stunden aus dem physischen Alltag reißen. Binge watching-Erlebnisse auf Netflix und Co., die den Serienkonsum zum immersiven Dauererlebnis umfunktionieren. Und natürlich die Bedingungen digitaler Kulturen, in der alles auf Erfahrungen abseits der physischen Realität basiert: von Shopping bis Online-Dating.

Immersive Technologien wie Virtual Reality, Augmented Reality und Mixed Reality sind aktuell die Vorboten für dramatische Veränderungen in Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft und für viele die Pervertierung unseres Verlangens nach immersiven Erlebnissen. Es ist kein Zufall, dass die Verfilmung von Ready Player One ausgerechnet von einem der bekanntesten Regisseure im Stil eines Blockbusters adaptiert wurde. Im Jahr 2018 stehen immersive Technologien kurz davor zu einem Massenmedium zu avancieren, angeführt von einigen der mächtigsten Technologie- und Medienkonglomerate unserer Zeit: Facebook, Google, Samsung, HTC und Sony. Und es gibt einen Mann, der diese Revolution anführen möchte: Mark Zuckerberg. Bereits seit fast zwei Jahrzehnten ist der Facebook-CEO das Gesicht einer digitalen Revolution der sozialen Medien. Zuckerbergs digitales Ökosystem ist aus der Kommunikation der westlichen Welt nicht wegzudenken: Facebook, Instagram, WhatsApp. Diese Plattformen sind für sich genommen schon immersive Erlebnisse, konstruieren sie doch eine digitale Parallelwelt, in der soziales Verhalten und Kommunikation in Algorithmen und Interfaces eingeteilt und Öffentlichkeit und Privatheit neu konstituiert werden. VR ist für Zuckerberg der nächste logische Schritt, um das digitale Kommunikationsnetz um die Dreidimensionalität zu erweitern.

Bereits 2012 hat der Facebook-CEO Pläne für eine virtuelle Zukunft geschmiedet. Mit der Übernahme der Headset-Technologie Oculus legte Zuckerberg den Grundstein für eine VR-Plattform, die allzu nahe an die Utopie von OASIS herankommt: Facebook Spaces. Spaces ist eine dreidimensionale Version des sozialen Netzwerkes Facebook, jedoch mit einem wesentlichen Unterschied: Die Erfahrung wird zu einem Erlebnis, das seine Nutzer_innen sowohl körperlich als auch mental einnimmt. In Spaces wird das Profil der Nutzer_innen zu einem dreidimensionalen Avatar umfunktioniert, der in dreidimensionalen Umwelten interagieren und kommunizieren kann. Anders ausgedrückt: Statt private Nachrichten auf Facebook zu schicken, kann man sich nun mit seinen Freunden am Grund des Meeres, auf der Oberfläche des Mondes oder an einem sonnigen Strand treffen. Alles zugänglich durch das Oculus-Headset und weitaus einnehmender als jede Form der digitalen Kommunikation zuvor. Denn hier beginnt nun ein Bruch: Was wäre, wenn die virtuelle Realität etwas bietet, was die physische nicht kann? Nehmen wir das Beispiel eines Geburtstagsfestes. Angenommen unsere wichtigsten Menschen sind auf der ganzen Welt verstreut und können aufgrund physischer Limitationen (Entfernung, finanzielle Ressourcen, Zeit) nicht an der Geburtstagsfeier teilnehmen. Würde die Mehrheit dann nicht die virtuelle Feier vorziehen als gar keine Feier zu haben? Wäre es nicht besser mit digitalen Avataren anzustoßen, als dass gar keine Interaktion stattfindet? Die emotionalen Implikationen sind immens: Erinnerungen und Emotionen basieren dann nämlich ausschließlich auf den Parametern der virtuellen Welt, geschaffen und kontrolliert von Facebook.

Robert Nozicks Experiment der „Experience Machine“ war jahrelang der Maßstab für die Dominanz der physischen Realität und die Kontrolle des immersiven Verlangens. Das Experiment basiert auf der einfachen Annahme, dass Menschen das virtuelle Erlebnis zwar genießen (plug-in), aber irgendwann auch einmal beenden möchten (plug-out). Schlichtweg weil immer die Annahme bestand, dass die physische Realität mehr zu bieten hätte. Felipe de Brigard hat das gleiche Experiment mit seinen Studierenden durchgeführt, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Er hat seine Testpersonen gebeten sich vorzustellen, dass sie sich bereits in der immersiven Umwelt befinden würden (plug-in). Und um wieder in ihr richtiges Leben zurückzukehren, müssten sie ihren aktuellen Zustand beenden (plug-out). Keiner der Studierenden wollte die derzeitige Erfahrung beenden, denn ihre aktuelle Umwelt war für sie die bevorzugte Realität. Das bedeutet, wenn Menschen die Realität des plug-in aus welchen Gründen auch immer präferieren, dann wird jede andere Form der Realität bedeutungslos.

Der Aufbau medialer Realitäten und immersiver Wirklichkeiten erreicht derzeit schleichend einen Höhepunkt. Die Frage ist, ob wir bereit sind unsere physische Realität zurückzulassen, um vollends ins Hasenloch zu fallen.

Solche Revolutionen enden nämlich manchmal auch mit einer Dystopie.

Jakob Kudsk Steensen, Primal Tourism, 2016
exhibition view, Künstlerhaus, Halle für Kunst & Medien, Graz, 2018, photo: Markus Krottendorfer

10/24/2018