Das Kernprogramm des steirischen herbst ’19 trägt den Titel Grand Hotel Abyss – Grand Hotel Abgrund. Mit diesem eindrücklichen Bild hat der Philosoph Georg Lukács die Haltung europäischer Intellektueller und Kulturschaffender angesichts des aufkommenden Faschismus beschrieben. Intendantin und Chefkuratorin Ekaterina Degot und Senior Curator David Riff haben die Vollversion des kuratorischen Konzepts verfasst.
Ein angenehmer Weltuntergang
Das Kernprogramm des steirischen herbst ’19 trägt den Titel Grand Hotel Abyss – Grand Hotel Abgrund. Mit diesem eindrücklichen Bild hat der Philosoph Georg Lukács die Haltung europäischer Intellektueller und Kulturschaffender angesichts des aufkommenden Faschismus beschrieben. „Das Grand Hotel ‚Abgrund‘ ist für jeden Geschmack, für jede Richtung vorsorglich eingerichtet“, schrieb Lukács in einem gleichnamigen, auf das Jahr 1933 datierten und posthum auf Deutsch erschienenen Text. „Jede Form der intellektuellen Berauschung, aber zugleich auch jede Form der Askese, der Selbstpeinigung ist gleicherweise gestattet; und nicht nur gestattet, sondern es gibt glänzend ausgerüstete Bars für jenes und vortrefflich hergestellte Turngeräte und Folterkammern für dieses Bedürfnis. Und nicht nur für Einsamkeit, sondern auch für Geselligkeit jeder Art wird gesorgt. […] Der Totentanz der Weltanschauungen, der sich alltäglich und allabendlich in diesem Hotel abspielt, wird für seine Einwohner zu einer angenehmen und aufregenden Jazz-Band, bei der sie Erholung nach ihrer anstrengenden Tageskur finden.“[1]
Man denkt hier nicht nur an Thomas Manns Der Zauberberg, in dem Lukács selbst als Romanfigur auftritt, sondern auch an die Schauplätze der Novellen von Stefan Zweig (über den Lukács ebenfalls schrieb). Solche Grand Hotels, könnte man sagen, sind typisch für das ehemalige Habsburgerreich, perfekte Orte für jene Mischung aus kreativer „Doppelzüngigkeit“ und „therapeutischem Nihilismus“, die William M. Johnston in seinem Klassiker The Austrian Mind: An Intellectual and Social History 1848–1938 (1972) diagnostizierte. Von zentraler Bedeutung für diese Mentalität sind die Begriffe Genuss und Lebensfreude, joie de vivre. Die hohe Lebensqualität muss noch in den unruhigsten Zeiten um jeden Preis aufrechterhalten werden – nicht so sehr, um einen Ausgleich zur Krise zu schaffen, sondern vielmehr als Ausdruck der Krise und ihrer langsamen, aber sicheren Unausweichlichkeit. Man vernimmt etwas von dieser nonchalanten und beinahe schon kennerhaften Haltung des österreichischen Fin de Siècle in den Texten von Karl Kraus: „Hier steht alles und wartet: Kellner, Fiaker, Regierungen. Alles wartet auf das Ende, – wünsch einen schönen Weltuntergang, Euer Gnaden!, und verlangt dafür noch Trinkgeld.“ Dieser Weltuntergang sollte gleichzeitig angenehm und aufregend sein, könnte man antworten, mit dem Gedanken an Lukács’ Grand Hotel Abyss.
Dieses Hotel ist immer noch in Betrieb, verwöhnt heute aber nicht mehr nur Intellektuelle. Kulturtourist*innen, Geschäftsreisende und Hipster sind ebenfalls jederzeit willkommen. Der Weltuntergang ist noch immer angenehm, und darüber hinaus kann man ihn ständig im Fernsehen sehen, in Geschichten über Zombies oder multiresistente Keime. Solche Vorwarnungen laufen parallel zu einem neuen ästhetischen Interesse nicht nur am Konservatismus, sondern auch am Hedonismus der frühen 1930er-Jahre. In der Realität richtet dysfunktionales autoritäres Regierungshandeln verheerende Schäden an und bestätigt alle Katastrophenängste. Und wenn man gerade denkt, dass es schlimmer nicht werden kann, bricht ein anderer Teil der Welt zusammen, während unsere spätkapitalistische Ordnung ihre eigene, absurd-operettenhafte Version eines Fin de Siècle inszeniert. Ganze Städte sind von der Wasserversorgung abgeschnitten, während das Leben für die Privilegierten, die auf der Suche nach immer anspruchsvolleren Vergnügungen sind, immer noch komfortabler und angenehmer gemacht wird.
Ein deutliches Anzeichen hierfür sind die vielen kulinarischen und kulturellen Komfortzonen, die überall auf der Welt emporsprießen – und Graz ist eine davon, besonders, wenn sie als „Genusshauptstadt“ der „Genussregion“ Steiermark verpackt wird. Dann stellt sich zunehmend die Frage: Für wen ist diese Verpackung eigentlich gedacht, wem soll sie gefallen? Soll sie neue regionale Tourist*innen anziehen, nostalgiehungrige Pensionist*innen auf der Suche nach altertümlichem Zauber? Oder richtet sie sich vielmehr an überwiegend männliche Geschäftsreisende, die zu Tagungen und Meetings in die Region befördert werden? Versorgt werden diese Gäste von zumeist weiblichen Arbeitskräften aus Süd- und Osteuropa, die kochen und putzen und mit fast unsichtbarer Effizienz für Authentizität und Bequemlichkeit sorgen. In Lebensstilen, die auf Genuss und Wellness basieren und in denen eine outgesourcte, unsichtbare Unterschicht die Rolle der Bediensteten übernimmt, verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. Es war genau dieses Verschwimmen von Arbeit und Freizeit, das während einer Urlaubsreise im Frühjahr 2019 zum Sturz der österreichischen Regierungskoalition führte. Darin zeigte sich auch eine womöglich hoffnungsvollere Seite des „schönen Weltuntergangs“, nämlich, dass (rechts)populistische Regierungsmitglieder zum Opfer ihrer eigenen Fiktionen werden können.
Diese Szenerie des Genusses und der politischen Krise bildet den Ausgangspunkt für das Kernprogramm des diesjährigen steirischen herbst. Grand Hotel Abyss lädt dazu ein, einmal gründlicher über den Hedonismus in unruhigen Zeiten nachzudenken, und führt weit über Lukács’ Metapher hinaus. Das Kernprogramm beschäftigt sich mit den historischen und historistischen Bauwerken der Stadt und wirft die Frage auf, was es bedeutet, inmitten alter Pracht und umgeben vom Charme früherer Zeiten ein Festival für zeitgenössische Kunst zu veranstalten. Diese Frage stellt sich das Festival seit seiner Gründung im Jahr 1968. Die Bauten und Denkmäler der Stadt erzählen Geschichten über die Gegenreformation, über das Habsburgerreich und seine Helden und über Österreichs „Befreiung“, nicht vom Nationalsozialismus, sondern von der Besatzung durch die Alliierten. Später kamen Beispiele moderner und postmoderner Architektur hinzu. Es scheint, als könne die eigentümliche Ästhetik der Stadt jeden ästhetischen Eingriff in ihre ideologischen Strukturen und ihre historistische Architektur absorbieren. Welche finsteren Erinnerungen an das Zeitalter der Kolonialreiche sind in dieser Architektur gespeichert? Im Barock war noch die unschuldigste Verzierung Teil einer gegenreformatorischen Bildpropaganda, die in Europa dazu diente, religiöse Reformen niederzuschlagen und die indigenen Bevölkerungen in den Kolonien zu missionieren. Die dargestellten Reichtümer kamen offensichtlich aus weiter Ferne und waren auf Kosten der Einheimischen akkumuliert worden; solche Ansichten ferner Länder sieht man beispielsweise auch in den exotischen Dekorationen und im „Affensaal“ des barocken Palais Attems, in dem sich die Büros des steirischen herbst befinden.
Ebendieses Gebäude diente auch als Hauptquartier der britischen Besatzungskräfte und bot eine ideale Kulisse für die Anfänge des Kalten Krieges. Die meisten britischen Offiziere, zu denen auch der junge John Le Carré gehörte, lebten im damals einzigen wirklichen Grand Hotel der Stadt, im Wiesler, in dessen Offizierskasino zahlreiche reale und imaginäre Spione ein und aus gingen. In klassischen Kriminalfilmen wie der Verfilmung von Graham Greenes Der dritte Mann finden sich Spuren von Spionage und Mord, in denen die Sprache von Kunst und Kultur zu einer Ausdrucksform von Konspiration und Mord werden können. Im heute wieder auflebenden Kalten Krieg spielt Österreich eine ganz eigene Rolle als idyllisches Gebiet, in dem man sich eine neue Détente vorstellen kann. Vor gut einem Jahr wurde dieser Gedanke Wirklichkeit: Der russische Präsident Wladimir Putin landete mit der Präsidentenmaschine in Graz und fuhr von dort zu einem Restaurant in den Weinbergen der Steiermark, wo er auf der Hochzeit der österreichischen Außenministerin eine Rede hielt und Walzer tanzte; als Überraschung hatte er einen Donkosakenchor mitgebracht.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde auch die Kulturpolitik zu einer Soft Power. Großbritannien spielte in Österreich, wie anderswo auch, eine aktive Rolle in der Reeducation durch Kultur; die österreichische Liebe zur klassischen Musik, zum traditionellen Theater und zur Oper erschien als etwas, das die Briten teilen konnten. Auch unser diesjähriges Festival beschäftigt sich mit der Oper und der Annahme, dass diese einst für tot erklärte Kunstform in der einen oder anderen Form zurückkehren könnte – allerdings immer weit entfernt von jener klassischen Kultur, die von den Briten so bewundert wurde. Nicht die Moderne, wie andernorts, sondern die historische Kultur sollte sich als gemeinsame Sprache der „weichen Macht“ erweisen. Trotzdem hält sich in Graz bis heute der Mythos, dass das Künstlerhaus ein Abschiedsgeschenk der Briten war, bevor sie 1955 die Stadt verließen. Die Schlüssigkeit dieser Nachkriegsfiktion ist ein weiteres Thema des Festivals.
In der Nachkriegszeit stiegen aus den Ruinen nicht nur der Wellnesstrend und der Tourismus auf, sondern auch die Landwirtschaft und die Nahrungsmittelproduktion, die die Grundlagen der heutigen, modernen Glücksindustrie bilden. Der Weg hierfür wurde bereits in der Vorkriegszeit durch die umfassende Industrialisierung aller Lebensbereiche bereitet. Nach 1945 wurden die Verbindungen zur Biopolitik und zu den militärischen Plänen des Nationalsozialismus hastig verborgen, doch es blieb ein Überrest, der die ansonsten makellose Schönheit malerischer Berglandschaften bis heute kontaminiert – Landschaften, deren düstere Geschichten einige Künstler*innen des Festivals erforschen. Andere nehmen uns mit an die heutige Apfelstraße in der Steiermark und geben den migrantischen Arbeiter*innen aus Rumänien und Polen, die dort während der Erntezeit schuften, eine Stimme. Auch sie sind Teil der heutigen Nachschubkette für lokal erzeugte, standardisierte Genüsse in essbarer Form.
An der vordersten Front der Glücksindustrie erweitert die Selbstoptimierung die bisherigen Grenzen und durchbricht die sich andauernd wiederholenden Rhythmen von Urlauben, Mahlzeiten und sexuellen Aktivitäten. Dabei kann sie auf neue, raffinierte und kreative Angebote zurückgreifen, während sie eine Wirklichkeit, in der Prostitution und Ausbeutung allgegenwärtig sind, womöglich verdeckt oder gar glorifiziert. In solch einer Realität existiert eine noch tiefere Kluft zwischen Haben und Nichthaben, ein weiteres wiederkehrendes Thema des Kernprogramms. Insbesondere von der hohen Warte eines privilegierten Daseins aus betrachtet, erscheint dieser Abgrund als eine Quelle möglicher Weltuntergangsfantasien. So beschäftigen sich zahlreiche Beiträge dieser Ausgabe des steirischen herbst mit apokalyptischen Vorstellungswelten, und zwar nicht nur als Spiegel dystopischer Tendenzen der Gegenwart, sondern auch als einem Ort für Hoffnung und Erneuerung.
[1] Georg Lukács, „Grand Hotel ‚Abgrund‘“ (1933), in: Revolutionäres Denken – Georg Lukács. Eine Einführung in Leben und Werk, hg. v. Frank Benseler (München: Luchterhand Literaturverlag, 1988), 188 f.
Bildcredit: Grupa Ee